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Der blaue Mann

Mein marokkanisches Märchen
eBook, ca. 36 Seiten, 7,99 EURO

AUS DEM INHALT:

Die Straße ist gut, der Wagen auch, ebenso unsere Stimmung. Meine besonders. Für mich ist das was wir jetzt gerade erleben Urlaub, wirklicher Urlaub. Ich liebe die Abwechslung, die Anforderung, ein wenig Abenteuer. Ich brauche Ziele, Visionen. Ich genieße die Vorfreude auf ein wahrscheinlich großes Erlebnis. Der Tiermarkt in Goulimime, im Süden Marokkos, samstags in der Morgenfrühe, wird in der Reiseliteratur als „der große Tiermarkt des Südens“ beschrieben. Etwas, was es in dieser traditionellen Urtümlichkeit nur noch dort gibt, eben in Goulimime.

Seit etwa einer Stunde folgen wird dem Asphaltband durch die Sahara in Richtung Süden, wenig Bewuchs rechts und links der Straße. Ich spüre den Hauch der unendlichen Weite. Es ist Freitag, 10. Februar, zu Hause wird jetzt Karneval gefeiert. Phantastisch, den Kontrast in dieser Form zu erleben. Dort bunte Pappnasen, hier nur goldgelber Wüstensand und goldgelbe Sandhügel, soweit das Auge reicht. Vier Flugstunden waren es von Frankfurt nach Agadir.

Wir, das heißt Anita und ich, haben uns auf den Weg gemacht, um zu erleben was die Reiseliteratur als so sehenswert beschreibt und wovon gestern Abend ein älteres Ehepaar in unserem Hotel schwärmte. Sie haben den größten Tiermarkt des Südens schon vor Jahren besucht und bestätigt, dass es ein eindrucksvolles Erlebnis ist. Sie gaben uns Tipps. Wir sollten von Freitag auf Samstag in Goulimime übernachten, damit wir ganz früh auf dem Markt sein können. Denn nur am frühen Morgen, am besten noch vor Sonnenaufgang, würden wir den Tiermarkt so erleben wie er früher einmal war. Später kämen die Busse aus Agadir. Dann sähen wir dort mehr Touristen als Tiere. Wir haben an der Rezeption unseres Hotels in Agadir um eine Zimmerreservierung in einem guten Hotel von Goulimime gebeten. Im Reiseführer steht, dass Goulimime ein Wüstenort am Rand der Zivilisation mitten in der mauretanischen Sahara ist. Deshalb zur Vorsicht „ein gutes Hotel“.

Etwas mehr als zweihundert Kilometer beträgt die Distanz. Etwa drei Stunden Fahrzeit werden es sein. Der kleine Citroen ist gut gefedert. Ich genieße das Auf und Ab der welligen Straße. So stelle ich mir Kamelreiten vor. Sie durchschneidet den ockerfarbigen Wüstensand ohne Kurven. Luftspiegelungen am Horizont vermitteln den Eindruck als würde der Asphaltstrom in einem flimmernden See versinken. (...)

Es ist gleich vier Uhr. Der Tag ist heiß und staubig. Vor uns erscheinen die ersten Palmen und das Ortsschild von Goulimime. So ist das in Marokko. Palmen kündigen eine Siedlung an. Goulimime ist trister als ich es mir vorgestellt habe. Die Straße endet hier. Es ist die letzte Siedlung in Marokko, an der Grenze zum Niemandsland. (...)

Ja tatsächlich, das ist wohl ein Hotel, aber doch nicht unseres. Ich frage ob er sich vielleicht täuscht. Ich zeige ihm noch einmal den Zettel mit dem Namen. „Ja, ja“ sagt Mohammed lächelnd, „das ist das Hotel.“ Wir steigen aus, stehen ratlos da. Mohammed sagt ganz ruhig: „Es gibt nur ein Hotel in Goulimime, eben dieses.“ Ein kleiner, seltsam aussehender älterer Mann mit fürchterlich krummen Beinen und strengem Blick kommt eilig auf uns zu. Er sieht aus wie ein orientalischer Phantasiesheriff oder wie ein Akteur in der Märchenverfilmung „Tausend und eine Nacht.“ Er erinnert mich an die Faschingstage in unserer Heimat. Er steckt von Kopf bis Fuß in einem albern wirkenden Kostüm.
 
Unten eine weite braune Pluderhose, darüber eine weiße reich verzierte Bluse, darüber eine Lederweste mit Fransen. Ein mächtiger silberner Krummdolch steckt im breiten Gürtel. Die Krönung ist der große dunkle sehr ausladende nach oben sich verjüngende Lederhut. Er bildet ein totales Missverhältnis zu dem kleinen Kopf mit der Hakennase und dem imposanten grauen Schnurrbart. Und das tollste, von der Hutkante baumeln ringsherum farbige Bänder die in Bommeln enden herab. Er bedeutet uns mit großer Geste, dass er für die Touristen in Goulimime zuständig sei. Dabei deutet er auf ein silbernes Abzeichen an seiner Weste. Mit wilden zornigen Blicken, erhobener Faust und Schimpfworten die ich nicht verstehe, versucht er Mohammed wegzuscheuchen. Er greift nach unseren Taschen. (...)

Es knirscht, die Tür wehrt sich. Der alte Mann schimpft. Er kämpft mit der Türklinke und dem Schloss. Das Türblatt gibt nach. Es knarrt fürchterlich. Wir treten ein. Würdevoll stellt der Hilfssheriff die Taschen auf das große Bett. Er schaut uns erwartungsvoll an. Seine Augen leuchten wie Sterne im düsteren Raum. Ich sage „danke“, drücke ihm einen Geldschein in die Hand. Er verbeugt sich tief mit einem großen Redeschwall und Worten aus verschieden Sprachen. Die Hand mit dem Geldschein zur Faust geballt an die Brust gedrückt geht er rückwärts, noch immer gebückt, aus dem Raum. Ich habe verstanden, dass er zuständig sei für alles was Touristen in diesem Ort wünschen. Wir sollen ihn ansprechen, nicht den Jungen auf der Straße. Er sei immer für uns da. Dabei deutete er auf das silberne Abzeichen an seiner Weste. Ich murmele mehrfach „danke“ und schließe erleichtert hinter ihm was dem Raum als Tür dient. Es stinkt. Der alte verrostete Heizkörper ist heiß. Ich möchte das Fenster öffnen. Es weigert sich. Ich reiße am Griff, so fest ich kann. Alles wackelt, auch die Wände. Der Fensterflügel bewegt sich nicht. Ich versuche es noch einmal. Die Tür springt auf. Ich nutze nun den Schraubenzieher meines Original Schweizer Taschenmessers als robusten Hebel. Der Fensterflügel gibt nach. Ahhh, wie gut die Luft tut.

Außer dem Eisenrohrbett und einem traurig aussehenden Nachttisch mit  museumsreifem großen Telefon sehe ich keine Möbel. Doch, es kommt darauf an wie man es sieht. Da ist noch ein recht geheimnisvoll wirkendes Etwas mit schmuddeligem Vorhang. Ich schiebe ihn zur Seite, dahinter eine Stange, daran baumeln wild Kleiderbügel aus Draht. Sie haben sich wohl erschreckt. Ich gehe in das Bad. Ja, wir haben ein Zimmer mit Bad gebucht. Eine offene Plastikduschkabine in schickem Orange und eine im Design dazu passende Toilette sind moderne den Raum schmückende Elemente. Ich fasse den Toilettendeckel an. Scheppernd fällt er zu Boden. Wir wollen duschen. Kein Wasser. Nur einige braune Tropfen fallen müde herab. Es röhrt in der Leitung, sie bebt als würden wir etwas Außergewöhnliches von ihr erwarten. Ich drehe erschrocken den Wasserhahn zu. Wir beratschlagen kurz und sind uns schnell einig. Wir akzeptieren alles wie es ist. Es gehört zu unserem Abenteuertrip am Rand der Zivilisation und alles was noch kommt.

Ich denke an das was uns morgen früh für alles belohnen wird. Ich sehe „Blaue Männer.“ So werden die Nomaden der Sahara genannt, weil sie blaue mit Indigo gefärbte Gewänder tragen, die, so steht es in der Reiseliteratur, auf die Haut abfärben. In meiner Phantasie sehe ich sie, vom harten Leben gezeichnete Menschen, die mit ihren Tieren von weit herkommen, aus Lebensräumen die für uns keine sind. Die ganze Nacht hindurch sind sie gegangen, um vor Tagesanbruch in Goulimime zu sein. Das wurde uns berichtet. Wir verspüren Appetit und beschließen uns im Ort ein wenig treiben zu lassen, dabei nach einem Restaurant Ausschau zu halten. Ich verschließe die Tür sorgfältig, mehrmals, obwohl mir das ziemlich unnütz erscheint.
 
Meine Filmkamera ist noch im Kofferraum des Mietwagens. Dort soll sie auch bleiben. Der Mann an der Rezeption wirkt wieder sehr verlegen. Er tut wohl nur so als sei er sehr beschäftigt. Er schaut nicht auf. Wir tun so als hätten wir dafür Verständnis und gehen, ohne ihn zu stören, wortlos an ihm vorüber zur Außentür. Draußen empfängt uns die gleißende tiefstehende Nachmittagssonne. Sie lässt uns schnell zur Sonnenbrille greifen. Vor der gegenüber liegenden Häuserzeile sitzt Mohammed auf dem hohen Bordstein. Er winkt und strahlt als hätten wir eine Verabredung. Wir begrüßen uns. Er fragt was wir vorhaben. Ich sage, dass wir einen kleinen Bummel machen wollen und dass wir dabei nach einem Restaurant schauen werden. Er sagt: „Essen, jetzt? Dafür ist es doch noch viel zu früh. Ich weiß etwas Besseres. Essen könnt ihr hinterher. Das gute Restaurant, das ich euch dann zeige, hat bis spät in die Nacht geöffnet.“
 
Mohammed erzählt mit leuchtenden Augen von einer Karawane, die gerade in einer Oase in der Nähe des Ortes weilt, von Blauen Männern, die mit vielen Kamelen von ganz weit her aus der Sahara gekommen sind. Wir hätten Glück, wenn wir das heute erleben könnten, die Karawane käme schließlich nur einmal im Jahr nach Goulimime. Das sei noch viel interessanter als der Tiermarkt zu dem immer die vielen Busse mit Touristen aus Agadir kommen. Die Männer seien hier um wichtige Lebensmittel einzutauschen, für ihre Familien. Sein Bruder kenne sich in dieser Oase gut aus. (...)

Wir beratschlagen. Nach dem Motto „wer A sagt“ willigen wir schließlich ein. Jussuf, so heist unser neuer Führer, sitzt nun hinter uns. Er erzählt, dass er sogar einen Führerschein besitzt, wir könnten ihm vertrauen und wenn ich es wollte würde er sogar fahren. Ich will es nicht. Auf einer unbefestigten Piste verlassen wir Goulimime. Es ist schon dämmrig. Ich ärgere mich. Wenn wir ankommen ist es bestimmt schon zu dunkel zum Filmen. Und wenn ich schon einmal das Glück habe einer echten Karawane mit Blauen Männern der Sahara zu begegnen so möchte ich dies auch im Bild festhalten. Wir schweigen und fahren hinaus in die Wüste. Um uns herum nur schmutzig wirkender Sand. In der Ferne sehe ich Hügel, schwarz heben sie sich ab vom Abendhimmel. 

Nach einigen Kilometern erscheint nun links so etwas wie ein Militärposten. Ein bewaffneter Soldat steht mitten auf der Piste. Wir halten an. Jussuf und der Soldat führen einen seltsamen Dialog. Sie schreien sich an. Jussuf wird aus dem Wagen gezerrt. Er muss mit hinein in das ummauerte Gebäude. Anita und ich hören das Geschrei von mehreren Männern. Wir fühlen uns nicht gut. Jussuf kommt herausgelaufen. Er ruft: „Fahren, fahren!“ Er springt ins Auto während ich langsam anfahre. Er schimpft, schaut dabei mehrmals zurück. Ich verstehe nichts, bekomme auf meine Fragen nur oberflächliche Antworten. Aber muss ich das denn verstehen? Wer A sagt ... (...)

Plötzlich erkenne ich schemenhaft direkt vor uns ein recht breites Flussbett. Ich halte an, rolle noch ein kleines Stück vor. Tief unten entdecke ich im Scheinwerferlicht einen glitzernden Wasserlauf. Ich bin ratlos. Soll ich da etwa hindurch? Der sandige Weg führt in den Fluss hinein. Auf der anderen Uferseite sehe ich in gerader Linie Fahrzeugspuren, die darauf schließen lassen, dass er dort wieder hinaus führt. Aber welche Fahrzeuge waren das, und wie hoch war der Wasserstand, wie hoch ist er jetzt? Ich schaue mich hilflos um. Die beiden auf der Rückbank lachen, sie bedeuten mir mit Zeichen, dass ich einfach fahren soll, es gäbe keine Probleme. Ich umklammere das Lenkrad fest mit beiden Händen, starre nach vorn. Recht steil geht es hinunter. Die Erde ist aufgeweicht und breite geschwungene Furchen sehe ich. Aber ich habe mir ja etwas vorgenommen und Abenteuer wollte ich auch. So lege ich nun vorsichtig einen Gang ein, lasse die Kupplung sanft kommen. Der Wagen rollt an, schlittert in den aufgeweichten Furchen beängstigend schräg nach unten. Das Wasser spritzt auf. Ich gebe Gas, was soll ich sonst noch tun, außer Luft anhalten, für alle Fälle?

Wir sind drüben. Aber auch diese Uferböschung ist nicht besser. Ich zögere. Jussuf greift von hinten ans Steuerrad. Er schreit „fahre, schneller, noch schneller.“ Ich mache es, Jussuf lenkt. Es gelingt im Zickzack-Kurs, oftmals mit durchdrehenden Rädern. Oben angekommen spüre ich erleichtert Jussuf kennt sich hier wirklich gut aus. Nach wenigen Minuten sehe ich im Scheinwerferlicht die Umrisse von halbverfallenen Lehmgebäuden. Es ist nun stockdunkel. Ich erkenne nur, was direkt vor uns ist. Jussuf sagt ich solle anhalten. Ich frage ziemlich hart: „Wo ist die Karawane?“ und höre „wir müssen uns anmelden.“ Jussuf zeigt auf ein flaches Lehmgebäude. „Dort wohnt der Karawanenführer.“

Ich bin sehr unzufrieden mit dem Verlauf des Abends und mit dieser Situation. Anita und ich stehen stumm vor einem ungewöhnlich breiten Holztor. Der junge Mann, den wir vorhin noch aufgegabelt haben, der gut englisch spricht und Jussuf gingen hinein. Wir sollen noch etwas warten. Über uns funkelt der Sternenhimmel. Wir kommen uns ziemlich blöd vor, aber nun hören wir Stimmen. Ein schwaches Licht geht an. Das Tor wird geöffnet. Ein großer, schlanker, gutaussehender Mann mit blauem Gewand und weißem Kopftuch schreitet lächelnd auf uns zu, die weißen Zähne blitzen. Mit ausladenden Gesten und Umarmungen werden wir begrüßt. Salem aleikum, Salem aleikum ... hören wir immer wieder. Den Rest können wir nicht verstehen, es sind wohl Begrüßungsformeln, dazu drücken, küssen, verbeugen, murmel, murmel, murmel. Wir machen mit, so gut wir können. Er bittet uns freudig strahlend hinein. 

Wir folgen ihm, stehen nun in einem kleinen Innenhof, hohe Lehmmauern um uns herum. Ich erkenne einen schwach beleuchteten offenen Raum, darin Teppiche auf dem Boden. Ein dunkelhäutiger, ebenso gut aussehender junger Mann in blauem Gewand kommt aus dem Raum heraus auf uns zu. Die Begrüßungszeremonie ist die gleiche. Wir kennen uns ja nun schon gut damit aus. Dies ist der Diener des Karawanenführers, erklärt Jussuf. Der Karawanenführer bittet uns einzutreten. Drinnen müssen wir uns niedersetzen, auf kunstvoll verzierte Lederkissen. Wir staunen, zieren uns etwas. Eine wertvolle Handarbeit der Sahara-Nomaden, hören wir. Der Karawanenführer macht es uns vor. Er sitzt in der Raumecke, links vor uns, locker an eine dunkle Holztruhe gelehnt. Unsere beiden Begleiter sitzen uns mit gekreuzten Beinen gegenüber. Alle haben ihre Sandalen ausgezogen. Wir ziehen unsere Schuhe aus. Wohlwollendes Lächeln begleitet uns. (...)

Wir bedanken uns bei Jussuf für den wunderbaren, erlebnisreichen Nachmittag und Abend. Ich möchte noch etwas Alkoholisches trinken, Wein oder Bier, damit ich abschalten kann. Jussuf sagt: „Das gibt es nur im Hotel.“ Wir sitzen auf Bänken, in einer großen von mächtigen Säulen getragenen Halle. Um uns herum viele junge Männer, wahrscheinlich alle jungen Männer von Goulimime und alle haben lange Reihen bereits geleerter Bierflaschen vor sich auf dem Tisch. Die Stimmung ist entsprechend gut aber laut. Viele rauchen. Die Luft ist entsprechend schlecht. Ich wundere mich woher die jungen Leute das Geld für die Getränke haben. Ein Handgemenge und Geschrei, am Tisch direkt vor uns, reist mich aus meinen Betrachtungen. Ein älterer Mann, wohl ein Angestellter des Hotels, zerrt einen sich wild wehrenden jungen Mann aus dem Raum. Die beiden schlagen aufeinander ein. Der Kampf wird noch eine Weile fortgesetzt, draußen, außerhalb meines Blickfeldes. Jussuf erzählt uns später Drogen seien wohl die Ursache der Auseinandersetzung gewesen. Wir trinken einige Biere, fühlen uns wohl, Jussuf augenscheinlich auch. 

Müde verabschieden wir uns, kurz nach Mitternacht. Um fünf sind wir wieder mit ihm und mit seinem Bruder verabredet. Die beiden wollen uns zum Tiermarkt begleiten. An der Rezeption herrscht immer noch Geschrei. Der junge Mann, der aus der Halle gezerrt wurde, steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Wir stapfen die breiten Treppenstufen nach oben. Ich versuche zu schlafen, was mir nicht gelingt. Da fällt mir ein, dass wir ja keinen Wecker dabei haben. Im Schlafanzug gehe ich die breite Treppe hinunter. An der Rezeption werde ich Zeuge einer lautstarken noch immer nicht beendeten Diskussion. Der junge Mann steht schwankend mit blutverschmiertem Gesicht und hängendem Kopf da. Den beiden Hotelangestellten ist das peinlich. Ich erkläre weshalb wir früh raus müssen und höre natürlich würden wir um halb fünf geweckt, wir könnten uns darauf verlassen. (...)

Das antike Telefon läutet. „O.k., danke, wir sind wach.“ In der modernen Plasikdusche ist sogar Wasser, zwar erst nach einigen Minuten lauwarm, aber doch erstaunlich. Kurz vor fünf verlassen wir den Raum. Draußen ist es stockdunkel. Ich glaube wir sind die einzigen Gäste. Nirgends brennt auch nur eine Lampe. Wir tasten uns vorsichtig an der Wand des Hofs entlang zur Treppe. Endlich, ich fühle die Stufen. Wir tapsen, die Sicherheit des Geländers schätzend, nach unten, stehen ratlos vor der vergitterten Außentür. Ich fühle mich gefangen, wie in einem Käfig, versuche das Gitterwerk in unserem Sinne zu beeinflussen, ich rüttele, schlage. Es scheppert laut. Der, der uns geweckt hat, wird uns doch wohl rauslassen können. Und da kommt er angeschlurft, verschlafen, wortkarg, mit seinem Schlüsselbund. 

Wir stehen enttäuscht und ratlos auf der spärlich beleuchteten Straße, nichts zu sehen von Mohammed und Jussuf. In einem Eckhaus brennt Licht. Wir hören Stimmen, gehen darauf zu. Nun  sehen wir die beiden. Jetzt, wo sie uns wahrnehmen, strahlen sie. Wir begrüßen uns gut gelaunt und gehen zum vor dem Hotel parkenden Mietfahrzeug. Goulimime schläft noch. Nur wenige Kilometer nach den letzten Häusern bedeuten mir die beiden anzuhalten. Sie leiten uns auf eine Art Parkplatz. Ich sehe kein weiteres Fahrzeug, höre aber beim Aussteigen Geräusche, Tierstimmen, Menschen. Sehen kann ich nichts. Eine stockdunkle Nacht verschluckt uns. Kein Stern ist am Himmel zu sehen. Ob ich die Augen aufhalte oder schließe, es ist kein Unterschied. Wir nehmen uns alle bei der Hand. Ich spüre, nun sind wir wirklich mittendrin, in unserem marokkanischen Märchen. 

Irgendwo drückt man uns auf niedrige Holzschemel. Ich spüre Menschen um uns herum, kann sie aber nicht sehen. Da sitzen wir nun wie in einem noch dunklen Theaterraum und erwarten das Geschehen. Meine Phantasie und ein Gemisch aus Tier- und Menschenstimmen helfen mir mehr und mehr wahrzunehmen von dem was uns umgibt. Sehr behutsam weicht die Schwärze dieser Nacht. Nach einer Weile erkenne ich schon schemenhaft Tiere und Menschen. Alles fließt, alles ist in Bewegung. Ich registriere keine Ordnung. 

Nach etwa einer halben Stunde erhebe ich mich, wage mich vorsichtig hinein ins Geschehen. Ich erkenne kleine Tiergruppen, Schafe, Ziegen, Esel, Rinder, Wasserbüffel, Kamele, Pferde, Hühner, Enten, Gänse. Männer haben Mühe, die kleinen Herden zusammenzuhalten. Immer wieder brechen aufgeregte Tiere aus der Gruppe aus. Sie stecken mit ihrer Angst andere an, die dann ebenfalls davonlaufen. Männer und Kinder rennen laut schreiend hinterher. Woran sie in diesem Chaos erkennen welches Tier zu wem gehört ist mir ein Rätsel. (...)

Jetzt kommt ein großer alter Lastwagen auf mich zu. Im Vorbeifahren sehe ich auf der offenen Ladefläche, dicht gedrängt, liegende Kamele. Sie schwanken mit ihren langen Hälsen hin und her. Das Fahrzeug fährt in vielen Windungen, den Tierherden ausweichend, durch das Marktgeschehen. Ihm folgt eine dichte Staubfahne. Ich folge ihr. An einer Lehmmauer befindet sich eine Lehmrampe. Der Lastwagen fährt rückwärts heran. Männer stehen bereit. Die Kamele, sie scheinen sehr jung, wirken beunruhigt. Sie spüren die sich anbahnende Veränderung. Sie recken die Köpfe, fletschen die Zähne und brüllen wie Löwen brüllen. Ich wage mich mit meiner Kamera in die Nähe der Rampe. Ich weiß, dass ich nun tolle Bilder einfangen kann.

Männer entriegeln die hintere Umrandung der Ladefläche, klappen sie nach unten. Nun sehe ich, die Tiere sind an den Beinen gefesselt. Sie versuchen sich aufzurichten. Das Wollen und nicht Können erregt sie noch mehr. Panik breitet sich aus. Schaum trieft aus den weit aufgerissenen Mäulern. Zwei Männer mit Messern in der Hand betreten vorsichtig die Ladefläche. Sie stimmen sich ab. Wenn sie Fesseln durchschnitten haben springen sie schnell herunter. Mit fürchterlichem Gebrüll richten sich die so befreiten Tiere auf, flüchten vom Fahrzeug auf die Rampe und ... da stehe ich. Es sind wirklich eindrucksvolle Filmaufnahmen. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Es ist Mohammed, begleitet von Jussuf. Sie mahnen mich, wir würden das Frühstück verpassen, außerdem sei es unhöflich den Karawanenführer warten zu lassen. Das muss ich nun akzeptieren. Ich schaue auf die Uhr, es ist gleich acht. Es ist hell, der Zauber des frühen Morgenlichts vorüber. Bald werden wohl die Busse aus Agadir kommen. (...)

Heute weiß ich wie ich durch den Fluss fahren muss. Auf der anderen Seite halten wir wieder dort wo wir gestern Abend gestanden haben. Jetzt sehe ich deutlich wie sehr die Lehmhütten um uns herum verfallen sind. Wir steigen aus. Ich erkenne das Holztor, vor dem wir gestern so freundlich empfangen wurden. Der Sandboden ist nass und sorgfältig gefegt. Wir werden erwartet. Das Tor öffnet sich, bevor wir es erreicht haben. Der Karawanenführer tritt uns entgegen. Er sieht bei Tageslicht ebenso gut aus wie am Abend. Wir begrüßen uns noch zwei Stufen herzlicher als gestern. „Salem aleikum, salem aleikum, murmel, murmel, murmel,“ die Segenswünsche prasseln auf uns herab. Wir halten mit, in unserer Sprache. Der Blaue Mann freut sich offensichtlich sehr, dass wir Wort gehalten haben. Er verbeugt sich und bittet uns mit großer Geste einzutreten. Wir folgen. Wir haben Hunger. Im Hof treten uns der Diener und der Oasenbewohner, der so gut englisch spricht, entgegen. Wieder „Salem aleikum ..., murmel ...“ Wir werden in den einfachen Raum mit den Lehmwänden geleitet. Ich fühle mich hier schon richtig zuhause.

Wir sitzen wie am gestrigen Abend, ohne Schuhe, mit gekreuzten Beinen auf den Lederkissen. Der Karawanenführer lehnt wieder an der großen Holztruhe. Wieder gleiten die weißen Perlen durch seine schlanken Finger. Heute lächelt er uns an, während er leise betet. Wieder bereitet der dunkelhäutige Diener Pfefferminztee in der uns vertrauten recht aufwändigen Zeremonie. Wir lächeln wissend und anerkennend. Wir plaudern ein wenig, nippen am noch heißen köstlichen Tee. Nun kommt das Frühstück. Auf einem großen runden Kupferteller stehen drei flache Tonteller mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten. Drumherum liegen in Stapeln flache Fladenbrote. Die Blauen Männer und unsere Begleiter greifen zu. Sie brechen Brot und tauchen es in einen der Teller. Sie schmatzen. Wir machen es nach und murmeln Komplimente.

In den Tellern ist nichts weiter als Öl. Es sind verschiedene Ölsorten. Sie schmecken nussig und wirklich wunderbar in Verbindung mit dem trockenen leicht säuerlich schmeckenden Fladenbrot. Anita und ich haben später eindeutig bekundet, dass dies das beste Frühstück sei, welches uns jemals angeboten wurde. Wir kauen, schmatzen, nippen am Tee, genießen. Die Konversation plätschert. Der Oasenmann übersetzt. Doch nun erinnert uns Mohammed daran, dass er um elf Uhr in der Schule sein muss. Schade. Die Stimmung ist gut und wir fühlen uns richtig wohl hier. Der Diener trägt den großen Kupferteller mit dem Rest des Frühstücks und den Tellern nach draußen. Eine Wasserpfeife macht die Runde. Wir lehnen dankend ab. 

Ich frage nach der Karawane. Ich möchte Filmaufnehmen machen. Der Blaue Mann wirkt unruhig. Er fragt, ob wir noch interessiert sind an dem was er uns gestern zeigte. „Natürlich“, antworte ich mit starker Stimme, wir hätten uns auch Gedanken darüber gemacht was uns die Stücke wert seien. Der Blaue Mann lächelt freundlich. Er breitet auf dem Boden vor uns aus, was uns gefallen hat. Wir sind unter Zeitdruck. Ich deute rasch auf die Kette und sage ihm wie viel Deutsche Mark wir dafür zahlen wollen. Der Blaue Mann schaut mich verständnislos an. Ich warte darauf, dass der Oasenmann übersetzt, was ich geboten habe. Doch stattdessen belehrt er uns nun über die Handelsgewohnheiten der Saharanomaden. Ich unterbreche: „Warum so umständlich? Wir haben uns gestern Abend überlegt was uns die Stücke wert sind. Exakt dafür sind wir bereit sie zu kaufen, aber nur bis zu diesem Preis. Mehr können wir nicht zahlen. Unsere Reisekasse ist sehr begrenzt.“ 

Seltsam, ich dachte, dass dies eine klare, ehrliche Haltung sei, dass damit alles geregelt wäre. Der Oasenmann klärt uns mit sehr ruhigen Worten auf: „Die Blauen Männer wissen nichts anzufangen mit deiner Währung und auch nicht mit der marokkanischen Währung Dirham. Die Nomaden der Sahara denken nur in Lebensmitteln und das in Fünf-Liter-Krügen. Das ist ihre Maßeinheit für Tauschgeschäfte bei Grundnahrungsmitteln.“ Es sei somit an mir, in Krügen zu benennen, was ich zu zahlen bereit sei. Nur so könne der Karawanenführer über mein Angebot nachdenken. Ich höre ungläubig zu, schüttele den Kopf. Ich verstehe gar nichts mehr. „Woher soll ich wissen, wie viele Krüge mein Angebot darstellt? Wie soll ich das ermitteln?“ Es wird mir nun erklärt. Ich schreibe mit, es hört sich sehr kompliziert an. Ein Krug ist soundsoviel Dirham wert. Ein Dirham ist soundsoviel Deutsche Mark wert ... Das ist schwierig und umständlich. Aber ich rechne, laut, damit Anita mitrechnen und mich wenn notwendig korrigieren kann. (...)

Ich erkläre dem Blauen Mann weshalb wir uns nun schnell verabschieden müssen. Er nickt verständnisvoll. Seine Hand greift nach dem Lederband mit den Perlen. Im Hof verabschieden wir uns mit vielen Umarmungen, Küssen und Verbeugungen, auch von dem freundlichen Oasenbewohner der uns alles so gut übersetzt hat. Etwas benommen trete ich hinaus, noch immer innerlich leicht schwebend, nicht in der Wirklichkeit. Beim Einsteigen schaue ich noch einmal zurück. Die beiden blau gewandeten Wüstenbewohner stehen da wie die Hauptdarsteller einer Märchenverfilmung beim Abschied stehen müssen, während der Abspann anläuft. 

Bei der Fahrt durch die nun im Sonnenlicht freundlich und bunt wirkende Oasenlandschaft empfinde ich den Lebensraum der wenigen Menschen, die hier leben, als Paradies. Ein kleines Stück davon durften wir kennen lernen. Während der Flussdurchquerung bietet sich uns wieder das vertraute Bild der waschenden und Wasser holenden Frauen. Sie lachen und schauen offen zu uns herüber. Eine lärmende Kinderschar versucht uns einzuholen. Leider kann ich nicht mehr anhalten. 

Wieder sind wir auf der gesamten Rückfahrt stumm. Unsere beiden Begleiter setzen wir in Goulimime ab. Sie erhalten, was sie zufrieden stellt, für ihre sehr hilfreiche Begleitung. Im Hotel packen wir unsere Sachen. Wir verabschieden uns freundlich. Der Mann an der Rezeption wirkt erleichtert. Zum ersten Mal schaut er uns lächelnd an. Er wünscht uns eine angenehme Rückreise. Wir verlassen den Ort, in dem die Asphaltstraße im großen Süden Marokkos endet. Die Landschaft, die ja eigentlich keine ist, nehmen wir nicht wahr. Wir sind so in Gedanken versunken, dass uns die drei Stunden bis Agadir wie eine vorkommen. 

Wir sprechen über das Erlebte. Wir freuen uns darüber, dass es nun etwas gibt was uns immer wieder an das marokkanisches Märchen und den Abenteuertrip im Randgebiet der Sahara erinnern wird, die erworbenen traditionellen Schmuckstücke. Anita sagt versonnen: „Der Blaue Mann hätte mir seine Hand reichen können. Ich wäre ihm überall hin gefolgt, bis ans Ende der Welt.“ Ich kann sie gut verstehen. Dann höre ich: „Wenn wir in Agadir sind, gehe ich sofort mit der Kette und dem Beduinenschmuck in den Laden, wo uns der nette Inhaber so gut beraten hat, als er uns seine Schätze des Südens zeigte. Ich möchte wissen, was er zu unserem Kauf sagt. Und wie gut war es, dass dem Karawanenführer dein Original Schweizer Taschenmesser so gefallen hat.“ (...)

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